Konzert 4
Poesie ↑
Wenn etwas für Cello solo komponiert wird, ist der Bezugspunkt sofort gegeben: Bachs Cellosuiten. Zumindest äusserlich bezieht sich auch Magnus Lindberg in seiner «Partia» von 2001 auf den Thomaskantor. Der Titel hat seinen Ursprung im Originalmanuskript der Violinpartiten – die alte italienische Bezeichnung «partia». Damit jedoch endet schon der Bezug. Die Titel der sechs Sätze sind vielmehr einer vorbachschen Epoche entlehnt, wie Lindberg schreibt: «Nur die Texturen der verschiedenen Sätze erinnern in gewisser Hinsicht an ihre Vorläufer [aus der barocken Suite], die oft eine Allemande, eine Courante und Sarabande, ein Menuett oder eine Bourrée und eine Gigue umfassten. Da mir die Bezeichnung ‹Allemande› nicht gefiel, beginnt meine Suite mit einer ‹Sinfonia› – der Satz, der an ein Karussell gemahnt, ist von der Form her am komplexesten und stellt das Material des Werks vor. Die folgenden fünf Sätze filtern nach und nach das Material und erkunden unterschiedliche Texturen. Der zweite heisst ‹Coranto› und der dritte – ein langsames, sangliches Stück – ‹Aria›. ‹Boria› gleicht einem Scherzo und ein wildes, von der Textur bestimmtes Stück. Das ‹Double› verweist auf das Double-Menuett des Barock; ihm folgt ohne Unterbrechung die ‹Giga› als Finale.»
Dieter Ammanns «Piece for Cello», 1994 komponiert und fünf Jahre danach überarbeitet, trägt den bedenkenswerten Untertitel «imagination against numbers». Die Einbildungskraft wird der Zahl entgegengesetzt. Der Komponist arbeitete nicht nach einem fixen Schema und verzichtete bewusst darauf, das Klangmaterial rhythmisch zu präterminieren, während die Tonhöhen einem rigorosen Konzept folgen. Das ergibt eine Doppelbödigkeit. Zunächst wirkt das Stück äusserst klar. Und bietet dem Ohr Gelegenheit sich einzufühlen, etwa dem umkreisten Zentralton a. Auf einmal schiesst sich das Cello auf einen anderen Zentralton ein, lässt den freien, experimentellen Gestus hinter sich und übernimmt einen fast romantischen Tonfall. War das nicht ein Zitat? fragt man sich. Eine «Quasi Cadenza» fordert die Virtuosität hervor, Ammann treibt sie jedoch ins Ironische. So energiereich und direkt seine Musik wirkt, so enthält sie doch Reflexionen über Musikgeschichte, ja über Gesellschaftliches.
Die Sonate, komponiert von Benedikt bzw. Benedetg Dolf im Sommer 1951, leitet vom Cellosolo zum Lied hinüber. Dolf war und ist wenig bekannt ausserhalb Graubündens, war aber eine äusserst eigenständige und produktive Musikerpersönlichkeit. Zum Glück fand er einzelne einflussreiche Förderer. Seine Kammermusik klingt markig und bestimmt; alle Klangspielereien werden beiseitegelassen; die Energie ist zielgerichtet und führt das Ohr; Bach ist in dieser Sonate durchaus präsent, aber eher im fast durchwegs zweistimmigen Kontrapunkt, als im Tonfall. Da gibt es keine Anleihen. Im Zentrum von Dolfs Schaffen steht jedoch die Vokalmusik, häufig für Chöre, aber auch Klavierlieder. Der Sohn des Dichters und Liedersammlers Tumasch Dolf hat dabei auch zahlreiche rätoromanische Gedichte vertont, einfach und klar, aber unmittelbar in der Wirkung, von denen hier drei zu hören sind: Zwischen Morgen und Abend scheint das neue Leben auf.
Auch der Berner Jürg Wyttenbach hat sich mit romanischen Volksliedern beschäftigt, so schon als Siebzehnjähriger etwa in einer Klaviersonatine. Man stellt ihn sich in den Winterferien in Arosa vor. Das Jugendwerk fehlte lange in seinem Verzeichnis, aber Wyttenbach erinnerte sich später daran und revidierte es im Juli 2001 bei einem neuerlichen Besuch im Bündnerland, dieses Mal beim Festival «Young Artists in Concert» in Davos, bei dem er auf Einladung von Thomas Demenga als «Composer in Residence» mitwirkte. Ein Osterhymnus steht neben einem Scherzino-Rondino. Die Auseinandersetzung mit Volksmusik hatte da längst wieder eingesetzt. Wyttenbach, ein Schulfreund übrigens von Mani Matter, liebte stets das Chanson und das vertrackt einfache Liedchen. In seinem Musiktheaterstück «Gargantua chez les Helvétes du Haut-Valais – oder: ‹Was sind das für Sitten!?›» hat er ein Stück der neuen Schweizer Volksmusik geschaffen, in dem die Walliser Älpler dem urfranzösischen Riesen Gargantua begegnen. Er liebt das Urtümliche. Zehn Jahr nach Davos kam er nochmals auf «romanisch Bünden» zurück und schrieb drei geistliche Volkslieder, wobei der erwähnte Osterhymnus nun zwischen einem Fastnachts- und einem Weihnachtslied erklingt.
Schön, dass sich neues Liedschaffen auch an neuen Texten entzündet: So sind im Auftrag des Festivals tuns contemporans zwei neue Lieder entstanden. Astrid Alexandre arbeitete dafür mit Laura Livers und Gianna Olinda Cadonau zusammen. Über diese Anfrage habe sie sich gleich dreifach gefreut: «Per l’ina: Jau hai gugent punts!» («Zum einen mag ich Brücken.») Wenn ein Festival für zeitgenössische Musik Stücke von einer Singer/Songwriterin spielen möchte, sei das eine schöne Brücke: «eine Lektion für alle, die Musik immer noch ‹en truclets› / in Schubladen stecken möchten».
«Per l’autra: Ella exista, la lirica rumantscha feminina e moderna!» («Zum anderen: Es gibt sie, die weibliche und moderne rätoromanische Lyrik!») «Die Gedichte von Gianna Olinda Cadonau berühren mich.» Schon lange wollte Alexandre einige davon vertonen. «Wie immer, wenn mich ein Text inspiriert, stellte sich heraus: Die Musik versteckte sich schon zwischen den Zeilen / la musica è gia zuppada tranter las lingias!»
«Per finir: Era en il sectur da la musica classica contemporana vegnan anc adina sunadas dapli ovras dad umens che da dunnas.» («Zum Schluss: Auch in der Neuen Musik werden immer noch deutlich weniger Kompositionen von Frauen als von Männern aufgeführt.») Mit Laura Livers und Gianna Olinda Cadonau zwei neue Stücke zu schreiben, empfinde ich als eine Art melodiöses und trotzdem provokantes Winken mit dem Zaunpfahl: «Hey mund! Noss sains n’ans disturban en cas betg per scriver!” («Hey, Welt! Unsere Brüste sind uns beim Schreiben nicht im Weg!»)



































































