Konzert 5
Energie ↑
Zu den faszinierendsten Aspekten des Erzählens gehört, dass sich eine Geschichte in der Erinnerung verschiedener Personen unterschiedlich abbildet. Bücher und Filme (etwa Akira Kurosawas «Rashomon») spielen damit und erzählen die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven – wobei sich die «Wahrheit» jedes Mal anders ausnimmt. Gerade die Frage danach, was «wirklich» passierte, ist nun die Idee der Komposition «Fragmente der Erinnerung» von 2015. Der Ausgangspunkt, so schreibt die Komponistin Elnaz Seyedi, «ist eine musikalisch dichte Situation, die im Stück wieder und wieder in verschiedenen Konstellationen von Instrumenten aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Dabei ändert sich jeweils der Fokus auf die unterschiedlichen Materialien. Feinheiten werden unter die Lupe genommen und bekommen Raum und Zeit zu ihrer Entfaltung. Diese öffnet neue Fenster, bringt neue formale Gestalten hervor und entfernt das jeweilige Erzählungsfragment von der ursprünglichen Situation.»
Ein Titel wie «Corrente» erstaunt bei Magnus Lindberg kaum. Weniger an einen barocken Tanz denkt man dabei allerdings als an ein zügig vorwärtstreibendes Stück und gleichzeitig an etwas, das unter Strom (so das italienische Corrente) ist. Lindbergs Musik ist stets energievoll und hochaufgeladen.
Schwere Quinten eröffnen das Stück, und bald schon kommt es in Fahrt. Das Lineare des Flusses ist prägend. Als Grundmaterial dienen denn auch rhythmische Loops unterschiedlicher Grösse, die einander überlagern, vom einen zum andern modulieren und fort eilen. So verändert sich das Stück ständig. Immerhin erscheint in der Mitte, in einem ruhigeren Moment, eine flüchtige Anspielung auf Henry Purcells «Funeral Music For Queen Mary» – aber nein, neobarock ist das Stück nicht, eher neoklassizistisch, wie Lindberg meinte und darin «eine gewisse Reinheit, besonders im sonoren Bereich» entdeckte.
In ganz andere, sehr aktuelle Welten führt uns Duri Collenberg; der Titel «Kaufzwangzwang» deutet es an. Der Komponist schreibt dazu: «Entscheidungsfreiheit im Kaufverhalten ist gegeben durch das, was angeboten wird. Sobald ein Kauf im World Wide Web stattfindet, ist das Prinzip von Entscheidungsfreiheit insofern eine Illusion, als dass hinter den Kulissen ein Algorithmus das Bereitstellen des Angebots lenkt. Er nährt sich durch das Gewählte und bestimmt dadurch das Spektrum der nachfolgenden Möglichkeiten. Indem wir wählen, generieren wir die künftige Auswahl. Das Stück ‹Kaufzwangzwang› – bzw. eine Art ihm zu Grunde liegender Algorithmus – zwingt einzelne Spieler*innen Entscheidungen zu treffen, die Auswirkungen auf die Entscheidungsfreiheit aller übrigen Spieler*innen haben. Alle Spieler*innen inklusive Dirigent*in spielen von einem Tablet, die Einzelstimmen sind über ein lokales Netzwerk miteinander verbunden. Während der erste Teil (I & Kaufzwang 1) als Anfang gesetzt ist, sind die übrigen Teile (II, III & Kaufzwang 2, IV) als Module zu verstehen, deren Reihenfolge erst während der Aufführung des Stücks bestimmt wird. Wer bei ‹Kaufzwangzwang› mitmacht, ist Spieler*in im doppelten Sinne. Die Musiker*innen ‹spielen› ein Stück, indem sie sich mit dessen Spielregeln einverstanden erklären. Dies bedeutet, dass man bereit ist, alle Positionen in einer Kausalkette einzunehmen. Man bestimmt durch das Auswählen die künftige Auswahl. Man übt als Gezwungene*r einen Zwang auf Mitspielende aus. Dies ist der Mechanismus, der den Algorithmus zu einer sich selbst erhaltenden Instanz macht. Er ist das Protokoll der Entscheidungen. Ein teils auskomponiertes, teils pseudoimprovisiertes Musikstück als Analogie zu personalisierter Internetwerbung … Kaufzwangzwang.»
Der Basler Martin Jaggi, der heute in Singapur lebt und unterrichtet, hat sich in seinen Werken immer wieder mit aussereuropäischer Musik auseinandergesetzt – und dabei eine Art imaginärer Volksmusik geschaffen. Aber exotisierend und vielleicht gar kitschig darf man sich das nicht vorstellen. Seine Musik geht einen Schritt zurück, in die unbewussten Regionen der musikalischen Erinnerung, zu Klängen, die uns roh und ungeschliffen vorkommen mögen, die aber gerade dadurch eine eigentümliche Kraft entfalten. «Enga» etwa bezieht sich auf einen indonesischen Klagegesang, der zunächst nur fragmentarisch anklingt und sich dann stetig beschleunigt. Die Musik ist von ausserordentlicher Beharrlichkeit.
Das führt uns fast unmittelbar weiter zu einem der berühmtesten Stücke der Musikgeschichte: zum «Bolero» von Maurice Ravel. Es ist ein Stück, das die Idee, etwas Gleiches aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, auf die
Spitze treibt. Von da her bietet sich der Vergleich mit Elnaz Seyedis Stück an. Im «Bolero» wird eine Melodie mit jedem Durchlauf auf neue Weise instrumentiert, entfaltet dabei stets andere Aspekte und steigert sich. Schon vor einigen Jahren arrangierte David Sontòn Caflisch das Stück für eine Quintettbesetzung. Wofür Ravel ein volles Orchester zur Verfügung stand, muss er reduzieren und mit weniger Klangmaterial eine ähnliche Wirkung erreichen. Ein herausfordernder Balanceakt! — Thomas Meyer



































































