Konzert 1
Magie des Klangs ↑
Der Titel klingt ungewöhnlich: «Isopor Oss». Die Heilpflanze Ysop klingt darin an, die einst zum Reinigen und Waschen verwendet wurden; ebenso erinnert «Oss» an Knochen. «Ich werde die Knochen reinigen», könnte das etwa bedeuten, reichlich archaisch und/oder surreal. David Sontòn Caflisch hat diesen Titel allerdings wie auch das vertonte Gedicht auf ungewöhnliche Weise gefunden bzw. neu erfunden. Er nahm ein romanisches Gedicht und verdrehte die Buchstaben jedes Verses, so dass aus den Anagrammen ein neuer, wiederum romanischer Text entstand. Was ursprünglich von Nebelschwaden über Wiesengründen sprach, geriet in Alptraumartige und entwickelte unheimliche Facetten – als klinge da etwas von ferne herüber, aus tiefer psychischer Schicht. «Dann / löse ich auf / das Salz / und mich selbst. / Niemand / gibt acht, / das Salz / ist draussen: / lach´ / Prinzessin.» So lautet zum Beispiel die dritte Strophe, die zum Zentrum des Werks wird: Hier bricht die Sopranstimme in ein strahlendes Forte aus. Die fünf Strophen sind in neun Teile aufgegliedert, in denen auch der Titel mehrmals vertont erscheint. Mit jedem Teil wechseln Gestus und Singweise. Am Schluss dreht die Stimme die bedeutungsvoll-sinnlosen Worte «Nunu Regi Aruani» – wie eine beschwörende Zauberformel.
«Lieux retrouvés» – wiedergefundene Orte: Im Titel schwingt bei Thomas Adès unweigerlich etwas von der Proustschen Erinnerung mit. Und tatsächlich ist die Erinnerung ein zentrales Motiv in vielen Kompositionen des Festivals. Der englische Komponist hat sich häufig auf französische Musik, besonders Barockmusik bezogen. So überrascht der Titel dieses Minicellokonzerts (ursprünglich ein Duo) nicht. Es ist eine sehr bildhafte Musik: Mit einer ruhig fliessenden Solokantilene in glitzernden Akkordbrechungen beginnen «Les eaux», sie geraten in heftige Bewegung, sinken ab und kehren zurück.
Im Tempo einer Promenade ist «La montagne» zu spielen. Wir folgen Bergsteigern auf ihrer Wanderung und kommen im Trioteil sogar zu Jodlern. Ruhig liegen die Felder in der Nacht («Les champs»). Am Ende jedoch steht «La ville – cancan macabre», wo wir ins Nachtleben geraten und Offenbachs Can-can begegnen. Hier verschmelzen Grotesk-Diabolisches, Makabres und virtuose Brillanz.
In ihrem Orchesterstück von 2016/17 bezieht sich die deutsche Komponistin Katrin Klose auf den 1998 verstorbenen Gérard Grisey, eine Hauptfigur der Spektralisten. Und der Titel «Accord» verweist auf eine der wichtigsten Leistungen dieser französischen Musikergruppe: Sie untersuchten das Obertonspektrum der Klänge und Harmonien und erprobten andere, nicht temperierte Stimmungen. All das steckt im Wort «Akkord». Die zentrale musikalische Gestalt ihres Stücks, so Klose, ist denn auch «der Gegensatz zwischen einem permanenten Abgleiten oder Entgleiten von der temperierten Tonhöhe hin zu Zwischentönen bzw. auch zum nächsten Klang in einer formbildenden Akkordprogression. Das Xylophon nimmt zusammen mit Oboe und Fagott die Rolle einer quasi Stimmgabel ein, die nur auf temperierter Tonhöhe zum Einsatz kommt. Hinzu kommt in Anlehnung an eine Idee von Gérard Grisey eine Schicht von ‹herbes folles›, von Unkraut, das die klare Struktur überwuchert und schliesslich in einem Zwischenteil die Führung übernimmt, bevor es im Schlussteil komplett verschwindet und den Blick freigibt auf den reinen Klang.»
In seinem ersten Violinkonzert bezog sich Magnus Lindberg 2006 auf Mozart zu dessen 250. Geburtstag – allerdings nur in der Orchesterbesetzung. Das erstaunt, wenn man den üppigen Sound hört, und zeigt, was für ein grandioser Orchestrator der Finne ist. Allein, indem er die Streicher teilt, erzeugt er einen dichteren Klang. Im übrigen ist das Werk eher seinem Vorbild Sibelius nahe. Allein die Eröffnungskantilene der Violine erinnert an dessen Violinkonzert. Es klingt auch, wie Kommentatoren sofort feststellten, «überraschend tonal für Lindberg» – ein Punkt, der ihm bald viel Kritik einbrachte. Aber es zeugt auch von der Wandlungsfähigkeit des Finnen.
Auch Virtuosität gehört dazu, durchaus im klassisch-romantischen Sinn. Lindberg schöpft da sämtliche instrumentalen Möglichkeiten aus. Höhepunkt des Werks ist denn auch die Solokadenz am Ende des zweiten Satzes, die ins Finale überleitet. Die Sologeige ist gleichsam der Joker, der mehrere Rollen übernimmt.
Die Dreisätzigkeit des Werks erinnert an die klassische Konzertform, aber diese formale Strenge wird durch Übergänge aufgeweicht und ist hier vielfältig ausgestaltet. Gewiss folgt die Abfolge der Konzertpsychologie: Zunächst wird das Material exponiert und verarbeitet; im langsamen Satz darf das Soloinstrument seine Expressivität unter Beweis stellen; am Schluss steht eine rhythmisch akzentuierte Stretta. Aber Lindberg schafft darin eine grössere Einheit, indem er mehrere «Themen» über alle Sätze verteilt – und sie dabei jedes Mal in einem anderen Licht erscheinen lässt. So setzt er gleichsam Leuchttürme auf diesen Weg, die dem Ohr eine Orientierung geben. Gleichzeitig ist dieser Weg aber so wendungsreich, dass er immer wieder überrascht.



































































