Programmheft 2021

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Biennale Tuns Contemporans Programmheft 2021.pdf

Fr 9. April 2021

19:00 Konzert


Konzert 1

Theater Chur

«Magie des Klangs» Details


Eröffnungskonzert


DAVID SONTÒN CAFLISCH (*1974)

Isopor Oss (2020)

ein romanisches Lied für Sopran und Orchester

Uraufführung


THOMAS ADÈS (*1971)

Lieux retrouvés (2016)

für Violoncello und Orchester


KATRIN KLOSE (*1990)

Accord (Hommage à Grisey) (2016/17)

für Kammerorchester

Gewinnerin des Call for Scores


MAGNUS LINDBERG (*1958)

1. Violinkonzert (2006)

für Violine und Orchester

Sa 10. April 2021

13:00 Konzert


Konzert 2

Theater Chur

«Apartment House»

Vermittlungsprojekt


JOHN CAGE (1912–1992)

Apartment House 1776 (1976)



Dieses Projekt ist auf Grund der Pandemie leider abgesagt.

Martina Mutzner Konzept


Kinder und Jugendliche Musikschule Chur und Schulheim Chur


Seniorenorchester Chur


Musiker und Musikerinnen von Ensemble ö! und Kammerphilharmonie Graubünden


Sa 10. April 2021

19:00 Konzert


Konzert 3

Theater Chur

«In Bewegung» Details

Grosses Ensemble


UNSUK CHIN (*1961)

Gougalōn (2011)


VERA IVANOVA (*1977)

Still Images (2008)

for fifteen players

Gewinnerin des Call for Scores


MARTIN DERUNGS (*1943)

Changements (2020)

für Kammerorchester und 8 Soli, op. 193

Uraufführung


MAGNUS LINDBERG (*1958)

Arena II (2006)

für grosses Ensemble

So 11. April 2021

11:00 Konzert


Konzert 4

Theater Chur

«Poesie» Details


Liedermatinée


MAGNUS LINDBERG (*1958)

Partia (2001)

für Violoncello solo


JÜRG WYTTENBACH (*1935)

Trais Canzuns – Drei geistliche Volkslieder aus romanisch Bünden (2011)

für Sopran und Klavier

Sonatine über rätoromanische Volkslieder (1952/2001)

für Klavier


DIETER AMMANN (*1962)

Piece (1994/1998)

for Cello


BENEDIKT/Benedetg DOLF (1918–1985)

La daman – Nova veta – Tuot quaida (1943/ 1976 /1943)

für Sopran und Klavier

Sonate für Violoncello solo, Nr. 1 (1951)

für Cello solo


ASTRID ALEXANDRE (*1981)

LAURA LIVERS (*1988)

dal mar (2020)

tenor poesias da Gianna Olinda Cadonau

Uraufführung

So 11. April 2021

16:15 Gespräch


Theater Chur

Komponist*innen­gespräch

Die Künstlerischen Leiter der Biennale Tuns Contemporans David Sontòn Caflisch und Philippe Bach im Gespräch mit den KomponistInnen Astrid Alexandre, Elnaz Seyedi, Katrin Klose, Magnus Lindberg und Duri Collenberg sowie den Dirigenten Baldur Brönnimann und Francesc Prat.




So 11. April 2021

17:00 Konzert


Konzert 5

Theater Chur

«Energie» Details


Abschlusskonzert


MAURICE RAVEL (1875–1937)

Bolero (1928)

für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine und Violoncello

Uraufführung der Bearbeitung von D. Sontòn Caflisch (2014)


MARTIN JAGGI (*1978)

Enga (2018)

für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine und Violoncello


ELNAZ SEYEDI (*1982)

Fragmente einer Erinnerung (2015)

für Kleines Ensemble

Gewinnerin des Call for Scores


DURI COLLENBERG (*1985)

Kaufzwangzwang (2020)

für Ensemble

Uraufführung


MAGNUS LINDBERG (*1958)

Corrente – China Version (1992/2000)

für Flöte, Oboe, Klarinette, Posaune, Schlagzeug, Klavier und Streichquintett

Konzert 1

Magie des Klangs


Der Titel klingt ungewöhnlich: «Isopor Oss». Die Heilpflanze Ysop klingt darin an, die einst zum Reinigen und Waschen verwendet wurden; ebenso erinnert «Oss» an Knochen. «Ich werde die Knochen reinigen», könnte das etwa bedeuten, reichlich archaisch und/oder surreal. David Sontòn Caflisch hat diesen Titel allerdings wie auch das vertonte Gedicht auf ungewöhnliche Weise gefunden bzw. neu erfunden. Er nahm ein romanisches Gedicht und verdrehte die Buchstaben jedes Verses, so dass aus den Anagrammen ein neuer, wiederum romanischer Text entstand. Was ursprünglich von Nebelschwaden über Wiesengründen sprach, geriet in Alptraumartige und entwickelte unheimliche Facetten – als klinge da etwas von ferne herüber, aus tiefer psychischer Schicht. «Dann / löse ich auf / das Salz / und mich selbst. / Niemand / gibt acht, / das Salz / ist draussen: / lach´ / Prinzessin.» So lautet zum Beispiel die dritte Strophe, die zum Zentrum des Werks wird: Hier bricht die Sopranstimme in ein strahlendes Forte aus. Die fünf Strophen sind in neun Teile aufgegliedert, in denen auch der Titel mehrmals vertont erscheint. Mit jedem Teil wechseln Gestus und Singweise. Am Schluss dreht die Stimme die bedeutungsvoll-sinnlosen Worte «Nunu Regi Aruani» – wie eine beschwörende Zauberformel.

«Lieux retrouvés» – wiedergefundene Orte: Im Titel schwingt bei Thomas Adès unweigerlich etwas von der Proustschen Erinnerung mit. Und tatsächlich ist die Erinnerung ein zentrales Motiv in vielen Kompositionen des Festivals. Der englische Komponist hat sich häufig auf französische Musik, besonders Barockmusik bezogen. So überrascht der Titel dieses Minicellokonzerts (ursprünglich ein Duo) nicht. Es ist eine sehr bildhafte Musik: Mit einer ruhig fliessenden Solokantilene in glitzernden Akkordbrechungen beginnen «Les eaux», sie geraten in heftige Bewegung, sinken ab und kehren zurück.

Im Tempo einer Promenade ist «La montagne» zu spielen. Wir folgen Bergsteigern auf ihrer Wanderung und kommen im Trioteil sogar zu Jodlern. Ruhig liegen die Felder in der Nacht («Les champs»). Am Ende jedoch steht «La ville – cancan macabre», wo wir ins Nachtleben geraten und Offenbachs Can-can begegnen. Hier verschmelzen Grotesk-Diabolisches, Makabres und virtuose Brillanz.

In ihrem Orchesterstück von 2016/17 bezieht sich die deutsche Komponistin Katrin Klose auf den 1998 verstorbenen Gérard Grisey, eine Hauptfigur der Spektralisten. Und der Titel «Accord» verweist auf eine der wichtigsten Leistungen dieser französischen Musikergruppe: Sie untersuchten das Obertonspektrum der Klänge und Harmonien und erprobten andere, nicht temperierte Stimmungen. All das steckt im Wort «Akkord». Die zentrale musikalische Gestalt ihres Stücks, so Klose, ist denn auch «der Gegensatz zwischen einem permanenten Abgleiten oder Entgleiten von der temperierten Tonhöhe hin zu Zwischentönen bzw. auch zum nächsten Klang in einer formbildenden Akkordprogression. Das Xylophon nimmt zusammen mit Oboe und Fagott die Rolle einer quasi Stimmgabel ein, die nur auf temperierter Tonhöhe zum Einsatz kommt. Hinzu kommt in Anlehnung an eine Idee von Gérard Grisey eine Schicht von ‹herbes folles›, von Unkraut, das die klare Struktur überwuchert und schliesslich in einem Zwischenteil die Führung übernimmt, bevor es im Schlussteil komplett verschwindet und den Blick freigibt auf den reinen Klang.»

In seinem ersten Violinkonzert bezog sich Magnus Lindberg 2006 auf Mozart zu dessen 250. Geburtstag – allerdings nur in der Orchesterbesetzung. Das erstaunt, wenn man den üppigen Sound hört, und zeigt, was für ein grandioser Orchestrator der Finne ist. Allein, indem er die Streicher teilt, erzeugt er einen dichteren Klang. Im übrigen ist das Werk eher seinem Vorbild Sibelius nahe. Allein die Eröffnungskantilene der Violine erinnert an dessen Violinkonzert. Es klingt auch, wie Kommentatoren sofort feststellten, «überraschend tonal für Lindberg» – ein Punkt, der ihm bald viel Kritik einbrachte. Aber es zeugt auch von der Wandlungsfähigkeit des Finnen.

Auch Virtuosität gehört dazu, durchaus im klassisch-romantischen Sinn. Lindberg schöpft da sämtliche instrumentalen Möglichkeiten aus. Höhepunkt des Werks ist denn auch die Solokadenz am Ende des zweiten Satzes, die ins Finale überleitet. Die Sologeige ist gleichsam der Joker, der mehrere Rollen übernimmt.

Die Dreisätzigkeit des Werks erinnert an die klassische Konzertform, aber diese formale Strenge wird durch Übergänge aufgeweicht und ist hier vielfältig ausgestaltet. Gewiss folgt die Abfolge der Konzertpsychologie: Zunächst wird das Material exponiert und verarbeitet; im langsamen Satz darf das Soloinstrument seine Expressivität unter Beweis stellen; am Schluss steht eine rhythmisch akzentuierte Stretta. Aber Lindberg schafft darin eine grössere Einheit, indem er mehrere «Themen» über alle Sätze verteilt – und sie dabei jedes Mal in einem anderen Licht erscheinen lässt. So setzt er gleichsam Leuchttürme auf diesen Weg, die dem Ohr eine Orientierung geben. Gleichzeitig ist dieser Weg aber so wendungsreich, dass er immer wieder überrascht.

Konzert 3

In Bewegung


Als sie 2008/9 nach Hongkong und Guangzhou reiste, fühlte sich die südkoreanische, heute in Berlin lebende Komponistin Unsuk Chin in ihre Kindheit zurückversetzt. Die armseligen Quartiere der Städte, unweit der modernen Zentren mit ihrer glitzernden Konsumwelt gelegen, erinnerte sie an die 60er Jahre in Seoul, als Südkorea noch von Armut und Diktatur geprägt war und die industrielle Modernisierung erst bevorstand. «Als Kind habe ich», so sagt sie, «insbesondere eine Unterhaltungstruppe immer wieder erlebt. Diese Laienmusiker und -schauspieler tingelten von Dorf zu Dorf, um den Leuten selbst hergestellte Medikamente, die bestenfalls wirkungslos waren, anzudrehen. Um die Menschen zu locken, führte man Theater mit Gesang, Tanz und diversen Kunststücken auf…» Dieses Strassentheater steht im Zentrum von «Gougalōn».

Unsuk Chin, die schon immer eine Neigung zum surrealen Charme des Abseitig-Alltäglichen, etwa zu Graffiti, hatte, verleiht dieser «imaginierten Volksmusik» ein raffiniert schräges Gewand. Subtil etwa ist das Spiel zwischen Flaschen und Dosen, und der Gesang der kahlen Sängerin (das Absurde Theater eines Eugène Ionesco lässt grüssen) wird nicht zur schrillen Groteske, sondern erlangt eine wunderbar morbide Eleganz. Nichts ist, wie es scheint, und von da her ist auch der Titel zu verstehen: Das althochdeutsche Wort «Gougalōn» bedeutet soviel wie «vorgaukeln», «vortäuschen» oder «Wahrsagerei betreiben».

Nicht vergessen ist damit, dass hinter diesen skurrilen Szenen mit seiner fernöstlich geschärften Farbigkeit auch die sozialen Gegensätze hineinwirken.

Bildhaftigkeit und Erinnerung spielt auch bei der Russin Vera Ivanova eine Rolle, die heute an der Chapman University in Kalifornien arbeitet und lehrt. Im Gegensatz zu Unsuk Chins Werk handelt es sich hier um abstrakte und statische Bilder, eben «Still Images», die auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Statisch sind sie, weil sie sich, obwohl im Innern bewegt und agil, kaum entwickeln. Immer wieder kippt das Stück zum Ausgangspunkt, einem fein umspielten Zentralton, zurück. Der Titel «Still Images of the Restless Mind» umschreibt das Stück vielleicht noch treffender: So hiess die erste Kammerorchesterfassung des Stücks von 2006. Die Musik reflektiere einen Gemütszustand, wie wenn wichtige persönliche Bilder aus der Kindheitserinnerung in einen vom Alltag verwirrten Geist zurückkehren. Die Bilder wirken unverbunden und beziehen sich insgeheim doch aufeinander.

«Changements» nennt der Bündner Martin Derungs, einst Schüler von Benedikt Dolf, sein Stück, und er möchte das durchaus wörtlich verstanden wissen, als allmählich sich verändernde Textur. Die Musik ist äusserst sparsam gehalten, die Elemente und Passagen werden eher in den Klangraum gestellt, sie bleiben einander heterogene. Nur momenteweise entwickelt sich etwas. Schliesslich entdichtet sich der Klang noch mehr. Zurück bleiben einzelne, lose nebeneinandergesetzte Linien im Raum.

«Arena II» von Magnus Lindberg geht auf ein älteres Stück namens «Arena» von 1995 zurück und reduziert das Sinfonieorchester auf sechzehn Instrumente. Flirrende Flächen, darüber ein markiges Terzmotiv: dieser Gegensatz von undeutlichem Vibrieren und klaren Tonfolgen bildet die Ausgangslage, aus der sich viele und weite Variationen entwickeln, durchaus schön, gelegentlich pulsierend und dramatisch – und erinnernd an die grossen sinfonischen Vorläufer, gerade auch Sibelius. Die Motive sind da nicht nur Ankerpunkte für das Hören, sie gestalten sich ständig um und führen das Ohr weiter.

Konzert 4

Poesie


Wenn etwas für Cello solo komponiert wird, ist der Bezugspunkt sofort gegeben: Bachs Cellosuiten. Zumindest äusserlich bezieht sich auch Magnus Lindberg in seiner «Partia» von 2001 auf den Thomaskantor. Der Titel hat seinen Ursprung im Originalmanuskript der Violinpartiten – die alte italienische Bezeichnung «partia». Damit jedoch endet schon der Bezug. Die Titel der sechs Sätze sind vielmehr einer vorbachschen Epoche entlehnt, wie Lindberg schreibt: «Nur die Texturen der verschiedenen Sätze erinnern in gewisser Hinsicht an ihre Vorläufer [aus der barocken Suite], die oft eine Allemande, eine Courante und Sarabande, ein Menuett oder eine Bourrée und eine Gigue umfassten. Da mir die Bezeichnung ‹Allemande› nicht gefiel, beginnt meine Suite mit einer ‹Sinfonia› – der Satz, der an ein Karussell gemahnt, ist von der Form her am komplexesten und stellt das Material des Werks vor. Die folgenden fünf Sätze filtern nach und nach das Material und erkunden unterschiedliche Texturen. Der zweite heisst ‹Coranto› und der dritte – ein langsames, sangliches Stück – ‹Aria›. ‹Boria› gleicht einem Scherzo und ein wildes, von der Textur bestimmtes Stück. Das ‹Double› verweist auf das Double-Menuett des Barock; ihm folgt ohne Unterbrechung die ‹Giga› als Finale.»

Dieter Ammanns «Piece for Cello», 1994 komponiert und fünf Jahre danach überarbeitet, trägt den bedenkenswerten Untertitel «imagination against numbers». Die Einbildungskraft wird der Zahl entgegengesetzt. Der Komponist arbeitete nicht nach einem fixen Schema und verzichtete bewusst darauf, das Klangmaterial rhythmisch zu präterminieren, während die Tonhöhen einem rigorosen Konzept folgen. Das ergibt eine Doppelbödigkeit. Zunächst wirkt das Stück äusserst klar. Und bietet dem Ohr Gelegenheit sich einzufühlen, etwa dem umkreisten Zentralton a. Auf einmal schiesst sich das Cello auf einen anderen Zentralton ein, lässt den freien, experimentellen Gestus hinter sich und übernimmt einen fast romantischen Tonfall. War das nicht ein Zitat? fragt man sich. Eine «Quasi Cadenza» fordert die Virtuosität hervor, Ammann treibt sie jedoch ins Ironische. So energiereich und direkt seine Musik wirkt, so enthält sie doch Reflexionen über Musikgeschichte, ja über Gesellschaftliches.

Die Sonate, komponiert von Benedikt bzw. Benedetg Dolf im Sommer 1951, leitet vom Cellosolo zum Lied hinüber. Dolf war und ist wenig bekannt ausserhalb Graubündens, war aber eine äusserst eigenständige und produktive Musikerpersönlichkeit. Zum Glück fand er einzelne einflussreiche Förderer. Seine Kammermusik klingt markig und bestimmt; alle Klangspielereien werden beiseitegelassen; die Energie ist zielgerichtet und führt das Ohr; Bach ist in dieser Sonate durchaus präsent, aber eher im fast durchwegs zweistimmigen Kontrapunkt, als im Tonfall. Da gibt es keine Anleihen. Im Zentrum von Dolfs Schaffen steht jedoch die Vokalmusik, häufig für Chöre, aber auch Klavierlieder. Der Sohn des Dichters und Liedersammlers Tumasch Dolf hat dabei auch zahlreiche rätoromanische Gedichte vertont, einfach und klar, aber unmittelbar in der Wirkung, von denen hier drei zu hören sind: Zwischen Morgen und Abend scheint das neue Leben auf.

Auch der Berner Jürg Wyttenbach hat sich mit romanischen Volksliedern beschäftigt, so schon als Siebzehnjähriger etwa in einer Klaviersonatine. Man stellt ihn sich in den Winterferien in Arosa vor. Das Jugendwerk fehlte lange in seinem Verzeichnis, aber Wyttenbach erinnerte sich später daran und revidierte es im Juli 2001 bei einem neuerlichen Besuch im Bündnerland, dieses Mal beim Festival «Young Artists in Concert» in Davos, bei dem er auf Einladung von Thomas Demenga als «Composer in Residence» mitwirkte. Ein Osterhymnus steht neben einem Scherzino-Rondino. Die Auseinandersetzung mit Volksmusik hatte da längst wieder eingesetzt. Wyttenbach, ein Schulfreund übrigens von Mani Matter, liebte stets das Chanson und das vertrackt einfache Liedchen. In seinem Musiktheaterstück «Gargantua chez les Helvétes du Haut-Valais – oder: ‹Was sind das für Sitten!?›» hat er ein Stück der neuen Schweizer Volksmusik geschaffen, in dem die Walliser Älpler dem urfranzösischen Riesen Gargantua begegnen. Er liebt das Urtümliche. Zehn Jahr nach Davos kam er nochmals auf «romanisch Bünden» zurück und schrieb drei geistliche Volkslieder, wobei der erwähnte Osterhymnus nun zwischen einem Fastnachts- und einem Weihnachtslied erklingt.

Schön, dass sich neues Liedschaffen auch an neuen Texten entzündet: So sind im Auftrag des Festivals tuns contemporans zwei neue Lieder entstanden. Astrid Alexandre arbeitete dafür mit Laura Livers und Gianna Olinda Cadonau zusammen. Über diese Anfrage habe sie sich gleich dreifach gefreut: «Per l’ina: Jau hai gugent punts!» («Zum einen mag ich Brücken.») Wenn ein Festival für zeitgenössische Musik Stücke von einer Singer/Songwriterin spielen möchte, sei das eine schöne Brücke: «eine Lektion für alle, die Musik immer noch ‹en truclets› / in Schubladen stecken möchten».

«Per l’autra: Ella exista, la lirica rumantscha feminina e moderna!» («Zum anderen: Es gibt sie, die weibliche und moderne rätoromanische Lyrik!») «Die Gedichte von Gianna Olinda Cadonau berühren mich.» Schon lange wollte Alexandre einige davon vertonen. «Wie immer, wenn mich ein Text inspiriert, stellte sich heraus: Die Musik versteckte sich schon zwischen den Zeilen / la musica è gia zuppada tranter las lingias!»

«Per finir: Era en il sectur da la musica classica contemporana vegnan anc adina sunadas dapli ovras dad umens che da dunnas.» («Zum Schluss: Auch in der Neuen Musik werden immer noch deutlich weniger Kompositionen von Frauen als von Männern aufgeführt.») Mit Laura Livers und Gianna Olinda Cadonau zwei neue Stücke zu schreiben, empfinde ich als eine Art melodiöses und trotzdem provokantes Winken mit dem Zaunpfahl: «Hey mund! Noss sains n’ans disturban en cas betg per scriver!” («Hey, Welt! Unsere Brüste sind uns beim Schreiben nicht im Weg!»)

Konzert 5

Energie


Zu den faszinierendsten Aspekten des Erzählens gehört, dass sich eine Geschichte in der Erinnerung verschiedener Personen unterschiedlich abbildet. Bücher und Filme (etwa Akira Kurosawas «Rashomon») spielen damit und erzählen die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven – wobei sich die «Wahrheit» jedes Mal anders ausnimmt. Gerade die Frage danach, was «wirklich» passierte, ist nun die Idee der Komposition «Fragmente der Erinnerung» von 2015. Der Ausgangspunkt, so schreibt die Komponistin Elnaz Seyedi, «ist eine musikalisch dichte Situation, die im Stück wieder und wieder in verschiedenen Konstellationen von Instrumenten aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. Dabei ändert sich jeweils der Fokus auf die unterschiedlichen Materialien. Feinheiten werden unter die Lupe genommen und bekommen Raum und Zeit zu ihrer Entfaltung. Diese öffnet neue Fenster, bringt neue formale Gestalten hervor und entfernt das jeweilige Erzählungsfragment von der ursprünglichen Situation.»

Ein Titel wie «Corrente» erstaunt bei Magnus Lindberg kaum. Weniger an einen barocken Tanz denkt man dabei allerdings als an ein zügig vorwärtstreibendes Stück und gleichzeitig an etwas, das unter Strom (so das italienische Corrente) ist. Lindbergs Musik ist stets energievoll und hochaufgeladen.

Schwere Quinten eröffnen das Stück, und bald schon kommt es in Fahrt. Das Lineare des Flusses ist prägend. Als Grundmaterial dienen denn auch rhythmische Loops unterschiedlicher Grösse, die einander überlagern, vom einen zum andern modulieren und fort eilen. So verändert sich das Stück ständig. Immerhin erscheint in der Mitte, in einem ruhigeren Moment, eine flüchtige Anspielung auf Henry Purcells «Funeral Music For Queen Mary» – aber nein, neobarock ist das Stück nicht, eher neoklassizistisch, wie Lindberg meinte und darin «eine gewisse Reinheit, besonders im sonoren Bereich» entdeckte.

In ganz andere, sehr aktuelle Welten führt uns Duri Collenberg; der Titel «Kaufzwangzwang» deutet es an. Der Komponist schreibt dazu: «Entscheidungsfreiheit im Kaufverhalten ist gegeben durch das, was angeboten wird. Sobald ein Kauf im World Wide Web stattfindet, ist das Prinzip von Entscheidungsfreiheit insofern eine Illusion, als dass hinter den Kulissen ein Algorithmus das Bereitstellen des Angebots lenkt. Er nährt sich durch das Gewählte und bestimmt dadurch das Spektrum der nachfolgenden Möglichkeiten. Indem wir wählen, generieren wir die künftige Auswahl. Das Stück ‹Kaufzwangzwang› – bzw. eine Art ihm zu Grunde liegender Algorithmus – zwingt einzelne Spieler*innen Entscheidungen zu treffen, die Auswirkungen auf die Entscheidungsfreiheit aller übrigen Spieler*innen haben. Alle Spieler*innen inklusive Dirigent*in spielen von einem Tablet, die Einzelstimmen sind über ein lokales Netzwerk miteinander verbunden. Während der erste Teil (I & Kaufzwang 1) als Anfang gesetzt ist, sind die übrigen Teile (II, III & Kaufzwang 2, IV) als Module zu verstehen, deren Reihenfolge erst während der Aufführung des Stücks bestimmt wird. Wer bei ‹Kaufzwangzwang› mitmacht, ist Spieler*in im doppelten Sinne. Die Musiker*innen ‹spielen› ein Stück, indem sie sich mit dessen Spielregeln einverstanden erklären. Dies bedeutet, dass man bereit ist, alle Positionen in einer Kausalkette einzunehmen. Man bestimmt durch das Auswählen die künftige Auswahl. Man übt als Gezwungene*r einen Zwang auf Mitspielende aus. Dies ist der Mechanismus, der den Algorithmus zu einer sich selbst erhaltenden Instanz macht. Er ist das Protokoll der Entscheidungen. Ein teils auskomponiertes, teils pseudoimprovisiertes Musikstück als Analogie zu personalisierter Internetwerbung … Kaufzwangzwang.»

Der Basler Martin Jaggi, der heute in Singapur lebt und unterrichtet, hat sich in seinen Werken immer wieder mit aussereuropäischer Musik auseinandergesetzt – und dabei eine Art imaginärer Volksmusik geschaffen. Aber exotisierend und vielleicht gar kitschig darf man sich das nicht vorstellen. Seine Musik geht einen Schritt zurück, in die unbewussten Regionen der musikalischen Erinnerung, zu Klängen, die uns roh und ungeschliffen vorkommen mögen, die aber gerade dadurch eine eigentümliche Kraft entfalten. «Enga» etwa bezieht sich auf einen indonesischen Klagegesang, der zunächst nur fragmentarisch anklingt und sich dann stetig beschleunigt. Die Musik ist von ausserordentlicher Beharrlichkeit.

Das führt uns fast unmittelbar weiter zu einem der berühmtesten Stücke der Musikgeschichte: zum «Bolero» von Maurice Ravel. Es ist ein Stück, das die Idee, etwas Gleiches aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, auf die

Spitze treibt. Von da her bietet sich der Vergleich mit Elnaz Seyedis Stück an. Im «Bolero» wird eine Melodie mit jedem Durchlauf auf neue Weise instrumentiert, entfaltet dabei stets andere Aspekte und steigert sich. Schon vor einigen Jahren arrangierte David Sontòn Caflisch das Stück für eine Quintettbesetzung. Wofür Ravel ein volles Orchester zur Verfügung stand, muss er reduzieren und mit weniger Klangmaterial eine ähnliche Wirkung erreichen. Ein herausfordernder Balanceakt! — Thomas Meyer

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Lia Rumantscha